Montag, der 20. Juli 1914
Alle Zeitungen gaben am Montag die Stellungnahme aus der Norddeutschen wieder. Der Vorwärts interpretierte die Position als ein Abrücken von der österreichischen Politik. „Das verstehe ich nicht“, meinte Eva. „Ich lese das eher als Beistandserklärung. Österreich hat Recht, mit dem was es zu tun plant, und wenn Serbien Probleme macht, soll es eine Lokalisierung geben. Österreich soll also ungestört mit Serbien abrechnen dürfen, denn was anderes wäre das doch nicht.“ Aber ihr gefiel der Schlusssatz des Vorwärts-Artikels. „Diese Reserve behält man in Berlin hoffentlich bei. Selbst auf die Gefahr hin, dass jedes Zustimmungs- und Anerkennungstelegramm aus Zoppot ausbleibt.“ Zoppot, das war natürlich der Kronprinz, der noch immer dort im Urlaub weilte. Das Jahr über residierte er auf Schloss Oels in Niederschlesien, weswegen seine Gegner in der Vergangenheit seine Äußerungen auch als „Zwischenrufe des jungen Herrn von Oels“ abgetan hatten.
Die Kreuzzeitung meldete, laut einem Bericht der Wiener Militärischen Rundschau werde der Schritt der österreichischen Regierung gerade bei den anderen Mächten angemeldet.
„Und was ist, wenn diese Einwände haben?“, zweifelte Eva. „Russland hat doch bestimmt Einwände. Und Österreich wird dann kaum einen Rückzieher machen, oder?“
„Das mit den Einwänden kommt auf die Forderungen an“, erwiderte ihr Vater. „Ich finde, es ist eine vernünfte Sache, das Ganze erst einmal ohne Öffentlichkeit zu besprechen. Da fällt der Ehrenfaktor weg. Niemand ist gezwungen auf die Prestigewirkung zu achten und man wird alles viel offener bereden.“
Die Redaktion hatte jedoch andere Probleme. In Neukölln war ein Lustmord an einem kleinen Mädchen begangen worden. Die Polizei hatte auch schon einen Verdächtigen festgenommen, einen erst kürzlich in die Gegend gezogenen Hutmacher, der beobachtet worden war, wie er nachts in seinem Kaninchenstall am Graben war. Dabei hatte man die mit einer Schnur erdrosselte und in einen Sack genähte Leiche der Vierjährigen gefunden. Der Hutmacher behauptete indes, er habe die Leiche nur gefunden und habe einen Freund namens Werner in Verdacht, die Kleine in seiner Wohnung missbraucht und getötet zu haben. Als die Polizei den Hutmacher abführte, schlug die erregte Menschenmenge mit Stöcken nach ihm und brüllte, man solle den Halunken herausgeben, man wolle ihn in Stücke reißen. Arthur Hoffmann schickte Theo nach Neukölln.
Außerdem wurde wegen eines Mordversuchs in der Xanthnerstraße ein Pfarrer festgenommen, ein Bekannter der Familie, der verdächtigt wurde, dort ein Eifersuchtsdrama zwischen Mutter und Tochter ausgelöst zu haben.
Weiter bombardierte Wolffs Telegraphenbüro die Zeitungen mit Nachrichten zum Caillaux-Prozess. Im März hatte Henriette Caillaux, die Ehefrau des französischen Finanzministers und ehemaligen Premiers Joseph Caillaux den Herausgeber des Figaro, Gaston Calmette, erschossen, weil er eine Schmutzkampagne gegen ihren Mann geführt hatte. Allein in den letzten Monaten waren 188 Artikel gegen Caillaux erschienen, meist auf Seite eins, die ihn unter anderem als „demagogischen Plutokraten“, als „Verführer des Geldadels“ bezeichneten und ihn bezichtigten, sich mehr um seine lukrativen Posten in den Aufsichtsräten französischer Banken zu kümmern als um seine Aufgaben als französischer Finanzminister und Ermittlungen gegen sich selber durch Druck auf die Richter verschleppt habe.
„In Paris muss eine Stimmung wie in einem Bienenkorb sein“, meinte Arthur Hoffmann.
„Ich verstehe nicht, was die Sensation dabei ist“, warf Eva ein. „Dass Frau Caillaux Calmette erschossen hat, steht doch fest. Es geht doch nur noch darum, ob es vorbedachter Mord oder Mord im Affekt war.“
„Mord im Affekt“, spottete Bruno. „Das ist kein Affekt, wenn jemand einen Revolver kauft, an einem Schießstand in der Waffenhandlung damit übt, eine Zeitungsredaktion aufsucht, dann viermal auf ihn schießt und hinterher erklärt, er habe damit verhindern wollen, dass der Erschossene intime Briefe veröffentlicht – womit Calmette den Caillauxs nämlich gedroht hat.“
„Dann ist doch sowieso alles klar! Warum also die Aufregung?“
„Das ist Frankreich“, wurde sie von Bruno belehrt. „Und in Frankreich bringt man keine Frauen vor Gericht und verurteilt sie schon gar nicht, egal, was sie tun. Die Caillaux soll im Gefängnis wie im Hotel residieren, ihre eigenen Möbel dabei haben, Besucher empfangen dürfen und á la carte speißen. Der Figaro tobt.“
„Zu Recht“, meinte Eva.
„Andererseits“, fuhr Paul fort, „steht keineswegs fest, dass die Behauptungen des Figaro gegen Caillaux mehr sind als eine Schmutzkampagne. Denn den Konservativen in Frankreich, deren Sprachrohr der Figaro ist, steht Caillaux einfach zu weit links. Er musste als Premier zurücktreten, weil er Deutschland nach der Marokkokrise von 1911 Neukamerun im Gegenzug für die deutsche Anerkennung der französischen Vorherrschaft über Marokko angeboten hat.“
„Ich dachte, unsere Alldeutschen haben damals getobt, weil sie nicht mehr als dieses wertlose Neukamerun bekamen“, warf Eva ein.
„Nichts destoweniger haben auch die Franzosen getobt, weil Caillaux es hergegeben hat. Eine Kolonie, die – um mit Bismarck zu sprechen – wahrlich nicht den Knochen eines preußischen Grenadiers Wert ist, aber trotzdem vermag, die chauvinistische Stimmung zwischen Deutschland und Frankreich anzuheizen. Augenblicklich aber hat Caillaux seine rechten Landsleute mehr damit verärgert, dass er die Dienstzeit in der Armee nicht auf drei Jahre heraufsetzen wollte. Außerdem plante er eine progressive Einkommenssteuer einzuführen, was die Oberschicht auf Heftigste erboste.“
„Aber seine Frau ist doch doof“, meinte Eva. „Eigentlich kann man ihr wirklich nicht vorwerfen, dass sie mit Vorbedacht gehandelt hat, weil Vorbedacht was mit Denken zu tun hat. Jetzt werden doch alle Vorwürfe und alle etwaigen intimen Briefe erst recht Gegenstand der Gerichtsverhandlung und der öffentlichen Diskussion.“
„Natürlich. Und ihr Mann musste selbstverständlich zurücktreten, was schade ist, denn es gibt nicht viele Politiker in Frankreich, die keine erklärten Feinde Deutschlands sind.“
Während es morgens noch fast dreißig Grad hatte, nahm die Bewölkung am Nachmittag zu und es wurde gewittrig. Abends kühlte es dann – ohne Blitz und Donner – ab.
Am Abend kam dann tatsächlich noch ein Telegramm aus Zopot. Die DTZ druckte eine Depesche des Kronprinzen an einen Oberstleutnant a. D. Frobinus ab, in dem der künftige Kaiser von „des Deutschen Reiches Schicksalsstunde“ sprach.
Eva entschloss sich, den Kronprinzen nicht ernst zu nehmen und schmökerte lieber in einem Reisebericht der Vossischen, der von einer Pferdetour durch Island erzählte. „Das ist doch der Stoff aus dem Träume sind.“
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