Samstag, der 18. Juli 1914
* Deutsche Kriegsvorbereitungen * Jagows Öffentlichkeitsarbeit * Briefwechsel Jagow – Lichnowsky *
In den Berliner Regierungsstellen wird weiter der Krieg vorbereitet. Bethmann Hollweg, Jagow, Delbrück und der Staatsekretär der Justiz, Hermann Lisco (1850–1923), besprechen letzte Einzelheiten der Mobilmachung.
Bethmann Hollweg verhandelt außerdem mit den preußischen Ministern über Richtlinien für die Behandlung der Sozialdemokraten, Dänen und Polen im Kriegsfall. Er kann sich damit durchsetzen, dass es keine präventiven Verhaftungen der entsprechenden Abgeordneten zu Kriegsbeginn geben soll.
Außenamts-Chef Jagow instruiert derweil seinen Kontaktmann im Stab des Kaisers, Georg von Wedel (1868–1950), dafür Sorge zu tragen, dass die Reiseroute so gewählt wird, dass man ab dem 23. Juli jederzeit schnell nach Deutschland kommen könne. „Bitte … Seine Majestät aber nicht vorzeitig zu beunruhigen.“
Außerdem betreibt Jagow weiter Öffentlichkeitsarbeit. Diesmal verfasst er einen Artikel für dieNorddeutsche Allgemeine Zeitung. In Europa würden immer mehr Stimmen laut, dass Österreich ein Recht habe, seine Beziehungen zu Serbien zu klären, schreibt er. Wenn Serbien wider Erwarten nicht einlenke, sei im Interesse Europas eine Lokalisierung geboten, um den Frieden zu erhalten.
Seinen Botschafter Tschirschky allerdings weist Jagow an, in Wien dafür zu sorgen, dass die Veröffentlichung nicht als Abrücken der besprochenen Linie verstanden werde.
Auch der bayerische Geschäftsträger in Berlin, Hans von Schoen (1876–1969), erfährt durch Jagows Mitarbeiter Zimmermann von dem Ultimatum. Er berichtet nach München, es werde auf 48 Stunden befristet und unannehmbar sein. Mit der Folge „Krieg“ sei man hier einverstanden, selbst auf die Gefahr hin, dass Russland eingreife. Es gehe um eine Kräftigung der Habsburgermonarchie und ihres Einflusses auf dem Balkan. Jagow habe allerdings Zweifel, dass Österreich sich dazu aufraffe. Zimmermann dränge auf eine schnelle Aktion, damit Serbien nicht doch noch auf Druck Russlands und Frankreichs Genugtuung anbieten könne. Schoen schreibt: „Wie sich die anderen Mächte zu einem kriegerischen Konflikt zwischen Österreich und Serbien stellen werden, wird nach hiesiger Auffassung wesentlich davon abhängen, ob Österreich sich mit einer Züchtigung Serbiens begnügen oder auch territoriale Entschädigungen für sich fordern wird. Im ersteren Fall dürfte es gelingen, den Krieg zu lokalisieren, im anderen Fall dagegen wären größere Verwicklungen wohl unausbleiblich“.
Eine interessante Feststellung! Doch über Österreichs „territoriales Interesse“ hat die deutsche Regierung mit dem Bündnispartner nicht mehr gesprochen, seit Wien die Aussage, man wolle Serbien zerschlagen, als Privatmeinung des Gesandten Hoyos zurückgewiesen hat. Erst am Vortag ist offenbar auch Außenamtschef Jagow aufgegangen, dass dieser Punkt nicht ganz unwichtig ist. Daraufhin hat er Botschafter Tschirschky aufgefordert: „Eure Exzellenz wollen versuchen, im Gespräch mit dem Grafen Berchtold sich hierüber Aufklärung zu verschaffen.“
Es stellt sich jedoch die Frage: Warum so spät? Warum so zaghaft? Traut er sich nicht, energischer aufzutreten? Oder will er gar nicht, dass Österreich zurückhaltend ist? Oder ist ihm relativ egal, was der Bundesgenosse wirklich plant, so lange Österreich nur gegenüber den anderen Mächten überzeugend versichert, man wolle sich Serbien nicht unter den Nagel reißen?
Doch in Russland haben die Lützow-Offenbarungen für Unruhe gesorgt. Der russische Außenminister Sasonow warnt nun k.u.k.-Botschafter Friedrich von Szápáry (1869–1935) direkt, dass sein Land keinen Angriff auf die serbische Unabhängigkeit zulassen werde. Szápáry erwidert, Wien habe nicht vor, die Beziehungen zu Serbien zu verschlechtern.
In der deutschen Presse dagegen klingen die Spekulationen über den österreichischen Schritt wieder ab, nachdem sie um den 15. und 16. Juli etwas lebhafter gewesen sind. Es gibt wieder mal eine amtliche österreichische Erklärung, dass alle gemeldeten Untersuchungsergebnisse bisher nur „Kombinationen“ der Journalisten seien. Und das serbische Pressbüro dementiert, dass es serbische Rüstungen gebe. Dafür berichten Kreuzzeitung und Vossische nun von angeblichen russischen Rüstungen. Jenseits davon verbreiten sich die Zeitungen im Moment eher über die neue Hutmode und den Trend, möglichst braun werden zu wollen, oder drucken Vorschläge für die leichte Küche an heißen Sommertagen. Die katholische Germania meint, ihre Leser auch mit einer Rubrik „Heiteres aus den albanischen Kämpfen“ erfreuen zu können.
Gottlieb von Jagow dagegen verbringt die Nacht zum Sonntag mit einem langen Privat-Brief an London-Botschafter Lichnowsky: Er schreibt, dass er die augenblickliche Krise als letzte Möglichkeit sehe, Österreich, das immer mehr an Aktionskraft und Ansehen verliere, zu rehabilitieren. Deutschland brauche einen möglichst starken Partner und einen anderen habe es derzeit nicht. Jagow behauptet, eine Lokalisierung zu wollen und keinen Präventivkrieg. Er schildert jedoch eindringlich seine Sorgen wegen der russischen Rüstungen: „In einigen Jahren wird Russland nach aller kompetenten Annahme schlagfertig sein. Dann erdrückt es uns durch die Zahl seiner Soldaten, dann hat es seine Ostseeflotte und seine strategischen Bahnen gebaut. Unsere Gruppe wird inzwischen immer schwächer.“ Sei der britische Außenminister Grey für ein europäisches Gleichgewicht, wie er immer behaupte, dann müsse er verhindern, dass Österreich von Russland zertrümmert werde, argumentiert Jagow
Der Brief klingt wie eine offene, ehrliche Lageeinschätzung unter Kollegen. Er könnte aber auch taktischer Natur sein. Selbst wenn er der britischen Regierung in die Hände gefallen wäre, hätte das Schreiben nur den Eindruck unterstrichen, den Deutschland in London zu machen wünschte.
Interessant ist jedoch Lichnowskys Antwort vom 23. Juli. Denn sie offenbart eine ganz andere Sichtweise auf die weltpolitische Lage als sie in der deutschen Regierung herrschte. Lichnowsky erklärt, nicht an die russische Bedrohung zu glauben. Dass Russland „jetzt“ noch nicht fertig sei, aber in ein paar Jahren, und dass der Generalstab darüber beunruhigt sei, heiße es nun schon seit beinahe 30 Jahren. Er persönlich sei nicht der Meinung, dass man mit Russland Krieg führen müsse, wenn die Politik geschickt geleitet werde. Ein prophylaktischer Krieg bringe schon gar nichts. Außerdem würden sich Russlands Interessen zusehends nach Osten verschieben, wo sich neue Gebiete der russischen Machtentfaltung auftäten. Was Frankreich und England angehe, sei es doch eigentlich ganz klar, „dass Frankreich nur so lange der Vasall Russlands bleiben wird und England nur so lange anderthalb Augen über das russische Vordringen in Asien schließen wird, als wir die Aufmerksamkeit beider in erster Linie in Anspruch nehmen.“ Natürlich solle man das Bündnis mit Österreich nicht preisgeben, räumt Lichnowsky ein. Aber man müsse dabei der leitende, nicht der leidende Teil sein. „Das Bündnis war doch als eine gegenseitige Versicherung gedacht gegen politische Wetterschäden, nicht aber als ein Zusammenschluss zu einer gemeinsamen politischen Firma. Wir müssen Österreich zwar schützen, es liegt aber nicht in unserem Interesse, es bei einer aktiven Balkanpolitik zu unterstützen, bei der wir alles zu verlieren und absolut nichts zu gewinnen haben.“ Wirtschaftlich seien Deutschland und Österreich auf dem Balkan sogar Rivalen. Lichnowsky hält es auch für eine Illusion, das südslawische Nationalgefühl durch einen Krieg vernichten zu können. Ein solcher würde die Südslawen eher noch mehr in die Arme Russlands treiben, während sie sonst, wie das Beispiel Rumäniens und Bulgariens zeige, durchaus die Tendenz hätten, sich auf eigene Füße zu stellen. „Was schließlich die Lokalisierung des Streits anbelangt, so werden Sie mir zugeben, dass sie, falls es zu einem Waffengange mit Serbien kommt, dem Gebiet der frommen Wünsche angehört. Es scheint mir also alles darauf anzukommen, dass die österreichischen Forderungen so formuliert werden, dass sie mit einigem Druck aus Petersburg und London in Belgrad annehmbar sind, nicht aber, dass sie notwendigerweise zu einem Kriege führen ad majorem illustrissimi comitis de Berchtold gloriam [zum größeren Ruhm des durchlauchtigsten Grafen Berchtold].“