Juli 1914
5. August 1914

Der Krieg und seine schmutzigen Folgen

* 1914 - 1918 * Waffenstillstand * Dolchstoß-Legende * Hitlers Aufstieg * Die Schuldfrage 1918 - 1933 *

 

Im Jahr 1887 schrieb Friedrich Engels (1820–1895) über den nächsten Krieg: „Acht bis zehn Millionen Soldaten werden sich untereinander abwürgen und dabei ganz Europa so kahl fressen, wie noch nie ein Heuschreckenschwarm. Die Verwüstungen des Dreißigjährigen Krieges zusammengedrängt in drei bis vier Jahren und über den ganzen Kontinent verbreitet; … endend im allgemeinem Bankrott; Zusammenbruch der alten Staaten und ihrer traditionellen Staatsweisheit, derart, dass die Kronen zu Dutzenden über das Straßenpflaster rollen.“

 

1914 aber glauben alle beteiligten Staaten an einen kurzen Krieg von vielleicht drei, vier Monaten. Wenn die Soldaten ihren Familien zum Abschied versichern „Weihnachten sind wir wieder zu Hause“ dann sitzen sie keiner Propaganda auf, die nur für die Öffentlichkeit bestimmt ist. Auch die Maßnahmen der Militärs sind auf keine längere Auseinandersetzung ausgerichtet. Sehr schnell mangelt es überall, wenn auch in unterschiedlichem Ausmaß, an Munition, Waffen und Winterkleidung für die Soldaten und ernste Verpflegungsengpässe tun sich auf. Aber im Gegensatz zu Engels – der auch schon den Schlieffen-Plan prophezeit hatte, bevor er erfunden worden war – müssen die Politiker und Militärs der Großmächte erst lernen, dass dieser Krieg nicht so funktioniert, wie sie ihn sich auf dem Reißbrett ausgedacht haben.

 

Auch die schnellen Siege, die Deutschland für das Gelingen des Schlieffen-Plans unbedingt braucht, bleiben aus. Im schlecht verteidigten Ostpreußen fallen russische Truppen ein. „Ich höre von allen Seiten, dass Züge mit Flüchtlingen von der Ostgrenze kommen“, schreibt der Journalist Theodor Wolff am 23. August in sein Tagebuch. „Ein ungeheures Elend, die Leute sind nicht rechtzeitig gewarnt worden, die Zivilverwaltung in Ostpreußen hat völlig versagt, alles Vieh, alle Pferde, aller Besitz musste den eindringenden Russen gelassen werden, die Straßen sind bedeckt mit zerbrochenen Wagen.“ Der Durchmarsch durch Belgien geht mit Kriegsverbrechen wie der Hinrichtung von Zivilisten und der Zerstörung der Stadt Löwen samt ihrer unschätzbaren Bibliothek einher. Am 12. September scheitert der deutsche Durchbruch nach Frankreich nach einer einwöchigen Schlacht an der Marne, die bereits über 100.000 Todesopfer fordert. Generalstabschef Moltke erleidet einen Nervenzusammenbruch und wird durch Kriegsminister Falkenhayn ersetzt. Ende September muss man im Südosten dem überforderten österreichischen Bündnisgenossen zur Hilfe kommen. Ende Oktober, Anfang November verbluten in Flandern um die Städte Ypern und Langemarck Zehntausende von unausgebildeten, jungen Kriegsfreiwilligen, teilweise erst 15 Jahre alt. Danach entwickelt sich im Westen auf einer Frontlinie von 700 Kilometern ein Stellungskrieg im Schützengraben. Der einzige größere militärische Erfolg ist ein Sieg gegen die russische Armee bei Olsztynek in den Masuren. Er wird Erich Ludendorff und dem reaktivierten General Paul von Hindenburg (1847–1934) zugeschrieben. Dabei hat Hindenburg eher wenig dazu beigetragen. Außerdem profitierte die deutsche Seite ganz wesentlich von Fehlern der Russen sowie der eigenen überlegenen Technik. Auf Hindenburgs Wunsch geht der Erfolg als „Sieg von Tannenberg“ in die Geschichte ein und wird so zu einer absurden „Revanche“ für die Niederlage bei Tannenberg stilisiert, die der Deutsche Ritterorden im Jahr 1410 in derselben Gegend gegen Polen und Litauen einstecken musste.

Trotzdem ist Falkenhayn – nach Einschätzung von Winston Churchill der fähigste der deutschen Militärs – schon Mitte November der Überzeugung, dass der Krieg nicht mehr zu gewinnen ist. Er drängt die deutsche Führung, Friedensverhandlungen aufzunehmen. Doch Militär und Regierung haben der Öffentlichkeit bis dahin den Ernst der Lage verschwiegen. Selbst der Reichstag wird unzureichend unterrichtet, und gut informierte Journalisten wie Theodor Wolff hindert die Zensur daran, ihr Wissen an ihre Leser weiterzugeben. So glaubt das Volk einerseits noch immer, gegen wilde Kosakenherden um das nackte Überleben zu kämpfen, berauscht sich aber andererseits schon an verstiegenen Kriegszielen. Wie soll man da der Öffentlichkeit erklären, dass man nun aus scheinbar heiterem Himmel einen Kompromiss-Frieden anstrebt? Außerdem gibt es noch die Tannenberg-Sieger, die um jeden Preis weiterkämpfen wollen. Sich dieser Front entgegenzustellen wagen weder Bethmann Hollweg noch der Kaiser. So gibt es keine Friedensverhandlungen und Falkenhayn führt den Krieg, den er für aussichtslos hält, fort. Der Kanzler aber zahlt einen hohen Preis. Wenig später fällt sein ältester Sohn Friedrich in Polen.

 

In den folgenden Jahren kommt es zu dem mörderischen Ringen um ein paar Meter Geländegewinn, das Erich Remarque in seinem Buch Im Westen nichts Neues schildern wird. Im Frühjahr 1916 versucht Falkenhayn die französische Festung Verdun einzunehmen. Ihm ist bewusst, wie entsetzlich das werden wird, aber er hofft, die  Franzosen „auszubluten“ und vielleicht zum Aufgeben zu bringen. Seine Rechnung geht aber nicht auf. Die Schlacht um Verdun endet ohne strategische Gewinne, aber mit je 150.000 Toten und 200.000 Verletzten auf beiden Seiten. Nach diesem Fehlschlag wird Falkenhayn nach Rumänien abkommandiert. Die Oberste Heeresleitung übernehmen nun die unerbittlichen Krieger Hindenburg und Ludendorff, die sich im Bewusstsein der Öffentlichkeit erfolgreich zu Heilsbringern stilisiert haben. Sie sorgen dafür, dass in Deutschland alles dem Krieg untergeordnet wird. Firmen, Schulen und Universitäten werden geschlossen, um Arbeiter für die Rüstungsindustrie zu gewinnen. Auch Frauen und belgische Zwangsarbeiter zieht man dazu heran. Material-Ressourcen gehen in erster Linie an die Armee. Manche Historiker sprechen von einer Militärdiktatur.

Gleichzeitig spitzt sich die Versorgungslage in Deutschland dramatisch zu, denn die Briten haben eine weiträumige Seeblockade verhängt. Die gehätschelte deutsche Flotte, die vor dem Krieg sowohl das Verhältnis zu England wie die Staatskasse so belastet hat, taugt nicht dazu, diesen Sperrriegel zu durchbrechen. Sie ficht 1916 gerade mal eine einzige Seeschlacht am Skagerrak aus und dümpelt ansonsten all die Jahre recht nutzlos vor sich hin. Gegen die britische Blockade wehrt sich Deutschland mit dem uneingeschränkten U-Boot-Krieg. Dieser führt im April 1917 jedoch zum Kriegseintritt der USA, da auch Passagierdampfer versenkt werden, die sowohl Kriegsgüter wie (amerikanische) Zivilisten an Bord haben.

Gegen Ende des Jahres keimt dann noch einmal Hoffnung auf. Russland war im März 1917 (nach gregorianisch-osteuropäischem Kalender im Februar) von einer Revolution erschüttert worden. Der Zar hatte zurücktreten müssen. Die neue Übergangsregierung aus Demokraten und Sozialisten setzte den Krieg jedoch fort. Deswegen transportierte das deutsche Kaiserreich Wladimir Uljanow, genannt Lenin (1870–1924), aus seinem Schweizer Exil im berühmten verplombten Zug nach Russland. Im (westeuropäischen) November putscht Lenin dann mit den radikalsozialistischen Bolschewiken gegen die Übergangsregierung („Oktoberrevolution“). Die Zarenfamilie wird ermordet und es beginnt ein dreijähriger Bürgerkrieg, der 8 Millionen Opfer fordert und zur Errichtung der Sowjetunion führt. Mit Deutschland aber schließen die Bolschewiken Frieden, wie sie das vor der Revolution versprochen hatten. Das Kaiserreich erhält im Vertrag von Brest-Litowsk Polen und das Baltikum, sowie Reparationszusagen im Wert von 6 Milliarden Goldmark.

 

Trotzdem ist der Krieg nicht mehr zu gewinnen. Die deutsche Armee erringt nicht die nötigen Erfolge, und das Volk hungert. Seeblockade und Militärdiktatur zusammen sorgen dafür, dass während des Krieges bis zu 750.000 deutsche Zivilisten, vor allem Kinder und Alte, an Krankheiten und Entbehrungen sterben. Im Frühjahr 1918 startet Ludendorff trotzdem noch einmal eine Großoffensive, die im Prinzip schon nach gut zwei Wochen gescheitert ist. Trotzdem lässt die Oberste Heeresleitung weiterkämpfen und täuscht die deutsche Öffentlichkeit mit falschen Erfolgsmeldungen. Erst am 29. September vollzieht Ludendorff die komplette Wende: Er fordert plötzlich umgehende Waffenstillstandsverhandlungen von Kaiser und Regierung. Er könne nicht garantieren, dass die Front noch länger als 24 Stunden halte, erklärt er.

 

Nun aber beginnt ein perfides Spiel: Die Kräfte, die den Krieg begonnen haben, betrauen die Opposition damit, ihn zu beenden. Ludendorff überredet den Kaiser, eine neue unbelastete Regierung einzusetzen, um mildere Friedensbedingungen zu erwirken. Das klingt erst einmal vernünftig, doch was Ludendorff in Wahrheit denkt, verrät er in einem Gespräch mit Offizieren: „Ich habe … Seine Majestät gebeten, jetzt auch diejenigen Kreise an die Regierung zu bringen, denen wir es in der Hauptsache zu verdanken haben, dass wir so weit gekommen sind. … Sie sollen die Suppe jetzt essen, die sie uns eingebrockt haben.“ Denn selbstverständlich ist Ludendorff überzeugt, dass nicht die Armee oder gar er selbst an der deutschen Niederlage schuld ist, sondern der politische Gegner. Die „Heimatfront“ hat versagt.

Natürlich war in Deutschland angesichts der langen Kriegsdauer und der elenden Lage die Kriegsmüdigkeit der Bevölkerung gewachsen. Aber der Großteil der Kriegsgegner beschränkte sich darauf, Friedensverhandlungen und innere Reformen zu fordern. Nur eine Minderheit, vornehmlich aus den Reihen der USPD, die sich von der SPD abgespalten hatte, verweigerte die Kriegskredite und organisierte Streiks. Nennenswerte Auswirkungen auf die Front hatte das nicht. Dass im Sommer 1918 immer mehr deutsche Soldaten desertierten oder freiwillig in Kriegsgefangenschaft gingen, hatte allein mit der gescheiterten Offensive und der immer desolate werdenden militärischen Lage zu tun. Aber das ficht Ludendorff nicht an. Er sieht weder die Mitschuld seiner diktatorischen Maßnahmen an den Hungerstreiks, noch interessiert ihn die Tatsache, dass die neue Regierung natürlich nicht aus USPD-Leuten gebildet wird, sondern aus lauter gemäßigten Oppositionellen: zwei Sozialisten, zwei Zentrums-Politikern, zwei Linksliberalen und zehn Parteilosen.

Die so Benutzten spielen mit, weil sie hoffen, ihrem Land dadurch wirklich einen besseren Frieden sichern zu können. Doch sie haben weder mit der Unerbittlichkeit der Siegermächte, noch mit der Infamie ihrer innenpolitischen Feinde gerechnet.

 

Am 3. Oktober tritt die neue Regierung ihr Amt an. Bereits einen Tag später ersucht der neue Kanzler, der liberale Prinz Max von Baden (1867–1929), US-Präsident Woodrow Wilson (1856–1924) um Waffenstillstandsverhandlungen. Am 5. Oktober wird die geschockte Bevölkerung informiert. Danach ziehen sich die Vorverhandlungen mit den Amerikanern hin. Während es im Volk brodelt, tut das deutsche Militär alles, um die Lage noch zu verschärfen. Die Oberste Heeresleitung lässt auf ihrem Rückzug in Nordfrankreich und Belgien, Kohlegruben fluten, Industrieanlagen zerstören und Obstbäume umhauen. Und die deutsche Marine-Führung kommt auf die Idee, zu einem letzten Gefecht „um die Ehre“ auszulaufen. Die Matrosen jedoch meutern, und aus ihrem Aufstand entwickelt sich eine deutschlandweite Revolution. Mitten in diesen Wirren bieten die Entente-Mächte endlich ein direktes Treffen an. Am 6. November stellt die deutsche Regierung hastig eine Waffenstillstandsdelegation zusammen, mit dem Zentrums-Politiker Matthias Erzberger an der Spitze. Zwei Tage später reist dieser ins französische Compiègne. Am Tag darauf, dem 9. November, überschlagen sich in Deutschland die Ereignisse: Der Kaiser wird abgesetzt, die Republik ausgerufen und der SPD-Politiker Friedrich Ebert (1871–1925) neuer Kanzler. Währendessen versucht Erzberger in Compiègne mit den Vertretern der Entente-Mächte zu verhandeln. Doch die sind mitnichten gesprächsbereit, sondern legen Waffenstillstandsbedingungen vor, die innerhalb von 72 Stunden zu akzeptieren sind. Erzberger wendet sich hilfesuchend an die neue Regierung und die Heeresleitung im deutschen Hauptquartier in Spa. Von dort kommt am 10. November die Weisung Hindenburgs, den Waffenstillstand zu jedweden Bedingungen zu akzeptieren. Erzberger handelt noch ein paar kleinere Zugeständnisse aus, unterzeichnet dann aber am 11. November den Vertrag. Drei Jahre später wird ihn diese Unterschrift das Leben kosten.

 

Denn Hindenburg, Ludendorff & Co. stricken bereits eifrig an dem Märchen, das deutsche Heer sei im Felde unbesiegt gewesen und nur durch einen „Dolchstoß“ aus der Heimat zur Kapitulation gezwungen worden. Da die Waffenstillstandsverhandlungen scheinbar so überraschend gekommen sind und keine feindlichen Truppen auf deutschem Boden standen, sind viele Menschen bereit, diese Lüge zu glauben. Die „Dolchstoßlegende“ gewinnt an Brisanz, als im Mai 1919 die Bedingungen des Versailler Friedensvertrages bekannt werden.

Sowohl die neue deutsche Regierung wie auch die Bevölkerung sind bis dahin fest davon ausgegangen, einen relativ milden „Verständigungsfrieden“ zu bekommen. Schließlich hat man ja die alten Kräfte, die den Krieg begonnen haben, entmachtet. Die Entente-Mächte aber betrachten Deutschland und seine Verbündeten weiterhin als die Verantwortlichen für den Krieg. Sie fordern nicht nur Gebietsabtretungen und militärische Abrüstung, sondern auch, dass die Schuldigen für alle an der Zivilbevölkerung und zivilem Eigentum angerichteten Schäden bis hin zur Unterstützung von Kriegswitwen und –waisen aufkommen. Diese Schäden aber sind immens. Vor allem Nordfrankreich und Teile Belgiens gleichen einer Mondlandschaft: völlig verwüstet, ausgeplündert und vermint. Die 226 Milliarden Goldmark, die anfangs dafür gefordert werden, sind aus heutiger Sicht nicht unangemessen, stellen aber natürlich eine gigantische Belastung für das wirtschaftlich völlig erschöpfte Deutschland dar. (Ob die Summe bei gutem Willen zahlbar gewesen wäre oder von vorneherein völlig illusorisch, darüber streiten sich die Historiker) Doch nichts, weder Gebietsabtretungen, noch Reparationen erregt die Menschen bis weit ins linke Lager hinein so sehr wie die scheinbar so ungerechte Zuweisung der alleinigen Verantwortung am Krieg. Denn noch immer glaubt ein Großteil der Deutschen, im Juli 1914 von Russland und Frankreich heimtückisch überfallen worden zu sein. Und vielen kritischeren Geistern erscheint der Kriegsausbruch zumindest als eine tragische Kette von Ereignissen, an der keine der beteiligten Mächte ganz unschuldig war. Die Friedensbedingungen rufen deshalb in Deutschland einen gewaltigen Sturm der Entrüstung hervor und – angeheizt von rechten Kreisen – wird allgemein von einem „Diktatfrieden“ gesprochen. Doch nicht zu unterzeichnen ist keine Alternative. Deutschland hat nach der Kapitulation sofort alle schweren Waffen abgeben müssen. Bei einer Weigerung wäre es von den Siegern besetzt und zur Annahme der Bedingungen gezwungen worden.

Doch allzu viele Deutsche wollen das nicht sehen. Für sie sind diejenigen an der „Schmach von Versailles“ schuld, die den Vertrag unterzeichnet haben. Und diejenigen, die kapituliert haben. Dazu alle, die sich schon zuvor für ein Ende des Krieges eingesetzt haben. Das Lügenmärchen der Militärs vom „Dolchstoß“ aus der Heimat, das anfangs auf die Streiks, den Protest gegen die Kriegskredite und den „mangelnden Durchhaltewillen“ abzielte, wird nun auf die neue Regierung übertragen. Vor allem Erzberger, der die Kapitulation unterzeichnet hat, und Philipp Scheidemann (1865–1939), der am 9. November die Republik ausgerufen hat, werden als „Verräter“ gebrandmarkt. Die Geschichte des deutschen Herbst 1918 wird nun so dargestellt, als hätte die Revolution zur militärischen Niederlage geführt und nicht die Niederlage zur Revolution. Die „Schuld“ an den Unterschriften von Compiègne und Versailles bleibt wie Pech an der gesamten Weimarer Demokratie kleben. Wie eine Erbsünde wird sie von einer Regierung auf die nächste übertragen. Alle, die in Deutschland in den nächsten Jahren politische Verantwortung übernehmen, werden von den antidemokratischen Kräften als „Erfüllungspolitiker“ diffamiert und teilweise sogar ermordet wie Erzberger und Walther Rathenau (1867–1922).

 

Während die Demokraten verzweifelt – aber zugegeben nicht immer geschickt – versuchen, Lösungen für die gigantischen Probleme des Landes zu finden, entsteht ein brauner Sumpf aus rechtsradikalen Nationalisten, Militaristen und Rassisten, teils in Freikorps organisiert, bewaffnet und putschbereit. Die offizielle Armee, die nach dem Versailler Vertrag nur noch 100.000 Mann stark sein darf, fördert diese Korps als „stille Reserve“ oder „Schwarze Reichswehr“ nach Kräften.

In diesem Sumpf entdeckt auch ein im Leben ziemlich gescheiterter Weltkriegsgefreiter namens Adolf Hitler (1889–1945) ungeahnte Talente und zieht als hasserfüllter Bierkelleragitator die Aufmerksamkeit rechter Förderer auf sich. Sein erster großer Mentor ist Ernst Röhm (1887–1934), ein führender Mann der „Schwarzen Reichswehr“ in Bayern. Hitler wird ihn später in der „Nacht der langen Messer“ ermorden lassen. Der nächste Unterstützer ist der unselige Erich Ludendorff. Er inszeniert 1923 zusammen mit Hitler den Putsch von München. Der scheitert zwar und bringt Hitler neun Monate Haft ein, verschafft ihm aber auch ein ungeheures Renommee in der rechten Szene. Zum dritten großen Förderer wird 1929 schließlich der Mann, der vor dem Krieg den „Alldeutschen Verband“ gegründet hatte: Alfred Hugenberg.

 

1929 kommen zwei Dinge zusammen: Das erste ist die Weltwirtschaftskrise, die Millionen von Menschen verelenden lässt. Die demokratischen Kräfte finden kein Mittel dagegen. Heftig attackiert sowohl von Rechtsradikalen wie von Kommunisten geraten sie mit jeder Wahl mehr in die Minderheit. Reichskanzler Gustav Stresemann (1878–1929) kann jedoch – das ist der zweite entscheidende Punkt – die Reparationsforderungen der Siegermächte auf 112 Milliarden Goldmark drücken. Klingt gut, erweist sich aber als ein Pyrrhus-Sieg ohne Gleichen. Denn die 112 Milliarden sollen in Jahresraten von nur 2 Milliarden Mark gezahlt werden. Auch das ist eigentlich eine Erleichterung, hätte aber Zahlungen bis 1988 bedeutet; „Verschuldung auf Generationen“ wie die rechten Kräfte hetzen. Hugenberg setzt zur großen Attacke an. Er verfügt inzwischen über ein Medien-Imperium rund um den Scherl-Verlag, den er während des Krieges mit freundlicher Unterstützung der Regierung übernommen hat. Außerdem ist er Gründer und Chef der antidemokratischen Deutschnationalen Volkspartei (DNVP). Er startet eine nationalistische Empörungskampagne und sucht dabei den Schulterschluss mit anderen rechtsradikalen Vereinigungen, u. a. mit der NSDAP. Hugenberg stellt Hitler seine Zeitungen zur Verfügung und führt ihn in „gehobene“ rechte Kreise ein.

Die Kampagne zeigt Wirkung. Vor allem die Verlierer der Wirtschaftskrise, jung, männlich, mittellos und ungebildet, aber ausgestattet mit einem Überschuss an Frust und Testosteron samt daraus resultierender Gewaltbereitschaft, sind ein gefundenes Fressen für diese Art von Ideologie. Aber nicht Hugenbergs DNVP wird der große Gewinner der Kampagne, sondern die NSDAP. Und das Schlagwort der rechtsradikalen Erhebung? „Die Schmach von Versailles tilgen“. Das Gift der Kriegsschuldlüge, die die deutsche Bevölkerung einem Ersten Weltkrieg zustimmen ließ, wirkt weiter und produziert nun die Voraussetzungen für einen zweiten.

 

Dabei hätte man die Wahrheit kennen können, wenn man nur gewollt hätte. Der bayerische Ministerpräsident Kurt Eisner (1867–1919) trat für eine Anerkennung der deutschen Kriegsschuld ein und begann als Erster politische Dokumente zu veröffentlichen, die diese belegten. Auch die Reichsregierung ließ Karl Kautsky Akten zum Kriegsausbruch zusammenstellen. Allerdings wurde Eisner bereits im Februar 1919 ermordet und bei den meisten anderen Politikern wich der Wunsch nach Aufklärung sehr schnell der Angst, dem Kriegsgegner Munition gegen Deutschland an die Hand zu geben. Deshalb hielt die Regierung Kautskys Ergebnisse erst einmal zurück. Als dann der Vertrag von Versailles bekannt wurde, wagte keine Stimme von Gewicht, sich der nationalen Empörung entgegenzustellen. Zwar wurde die Kautsky-Sammlung Ende 1919 doch noch veröffentlicht, jedoch versehen mit ausführlichen Kommentaren des Historikers Max von Montgelas (1860–1938) und des Außenamts-Mitarbeiters Bernhard Wilhelm von Bülow (1885–1936). Die brachten das Kunststück fertig, aus den Dokumenten den Beweis herauszulesen, dass Deutschland weitgehend unschuldig gewesen sei. Ähnlich ambivalent agierte ab August 1919 ein Parlamentarischer Untersuchungsausschuss. Er sollte einerseits die Fehler und Mängel des alten Systems aufdecken, andererseits aber die „Kriegsschuldlüge“ gegen Deutschland widerlegen. Als der Ausschuss stattdessen Indizien für eine deutsche Schuld zu Tage förderte, wurden diese von einem im Auswärtigen Amt eingerichteten „Kriegsschuldreferat“ unterdrückt, ebenso ein entsprechendes Gutachten des Rechtswissenschaftlers Hermann Kantorowicz (1877–1940). Später arbeitete das Referat dann gezielt daran, „Beweise“ für die deutsche Unschuld vorzulegen. Parallel dazu veröffentlichten Politiker wie Bethmann Hollweg und Jagow ihre Memoiren, in denen sie zwar Fehler zugaben (vorzugsweise solche, die sie nicht persönlich begangen hatten), aber daran festhielten, dass der Krieg zum einen eine Verkettung unglücklicher Umstände und zum anderen in erster Linie die Schuld Russlands gewesen sei. Teilweise gingen sie dabei sogar auf belastende Dokumente und Vorwürfe ein, schafften es aber, plausibel klingende Erklärungen zu liefern. Andere Politiker des Kaiserreichs wie Ex-Kanzler Bülow oder Admiral Tirpitz, die vor 1914 selber genug zum Desaster beigetragen hatten, taten sich damit hervor, alle Fehler auf deutscher Seite Bethmann Hollweg, Jagow & Co. anzukreiden. Die deutsche Vorkriegspolitik an sich wurde nicht in Frage gestellt, ebenso wenig die These, dass die eigentliche Aggression nicht von Deutschland ausgegangen sei.

Selbst Theodor Wolff, der während des Kriegs eifrig versucht hatte, den wahren Ereignissen im Juli 1914 auf die Spur zu kommen, veröffentlichte seine Rechercheergebnisse nicht, weil auch ihn das „Diktat von Versailles“ empörte und er den unbarmherzigen Siegern nicht recht geben wollte. Als einer von wenigen geißelte er jedoch  Militarismus und Nationalismus der Vorkriegszeit. Anlässlich der Vertragsunterzeichnung von Versailles forderte er am 28. Juni 1919 im Berliner Tageblatt, das deutsche Volk müsse „in strenger Prüfung und Selbstprüfung die Lehren überdenken, die dieser furchtbare Tag ihm bringt. Nur durch mutiges Erkennen wird es den Weg aus dem Abgrunde empor finden, in den es gestürzt worden ist.“

 

Natürlich gab es auch Versuche der „November-Politiker“ sich gegen das infame Spiel der alten Kräfte zu wehren. Am 25. Juli 1919 hielt Matthias Erzberger vor der Weimarer Nationalversammlung eine Rede, von der der politische Beobachter Harry Graf Kessler (1868–1937) sagte, sie sei wie „Kolbenschläge“ auf die Rechte gefallen, „die ganz blass und in sich zusammengeduckt und immer kleiner und isolierter in ihrer Ecke saß.“ Die Liste der Anklagen war so lang, dass Erzberger das „Märchen von dem Überfall“ im Juli 1914 nur kurz streifte. Umso ausführlicher ging er dann auf die zahlreichen Lügen von Regierung und Militärleitung während der Kriegszeit ein und beschuldigte die Reichsführung, 1917 eine Chance für einen glimpflichen Frieden ausgeschlagen zu haben, weil sie nicht auf Belgien verzichten wollte, das sie dort bereits mit der Liquidation von belgischem Staatseigentum zugunsten deutscher Großindustrieller wie Hugenberg, Krupp, Stinnes und Kirdorf begonnen habe. Schließlich kam Erzberger auf die Verantwortung der Obersten Heeresleitung für den Waffenstillstand von 1918 zu sprechen und erklärte klipp und klar: „Wir haben die Verantwortung übernommen, meine Herren, für das was Sie verbrochen haben. Was wir aber niemals zugeben werden, ist, dass sie aus dieser Verantwortung, die eigentlich Ihre Schuld ist, nunmehr versuchen, unsere Schuld zu machen und uns obendrein heuchlerisch mit Hohn und Spott übergießen.“

In Weimar bescherte diese Rede den Demokraten einen kurzen Triumph. Doch außerhalb des Sitzungssaales trafen Erzbergers „Kolbenschläge“ nicht wirklich. Möglicherweise hätte der Kampf gegen die „Dolchstoßlegende“ und andere Lügen gewonnen werden können, wenn ein strahlender Held ihn geführt hätte. Der aber war Erzberger nicht. Graf Kessler beschrieb ihn als „fett, schwitzend, unsympathisch, kleinstbürgerlich“, Tucholsky verfasste Spottgedichte auf ihn. Selbst vieler seiner politischen Partner mochten ihn nicht und fanden seine Umtriebigkeit und seine ständige Einmischerei lästig. Auch linke Kräfte glaubten insgeheim, dass bei den Waffenstillstandsverhandlungen vielleicht doch mehr hätte herausgeholt werden können, wenn jemand Respekteinflößendes sie geführt hätte und nicht ein täppisches Dorfschulmeisterlein aus der schwäbischen Provinz.  Die rechten Kräfte aber blieben bei der Dolchstoßlegende und überzogen Erzberger überdies so massiv mit persönlichen Vorwürfen wie Bereicherung, Lügen und „Verfehlung gegen die Wohlanständigkeit“, dass er schließlich sein Amt als Finanzminister aufgab, um der Regierung nicht zu schaden.

 

Auch sonst wurden Stimmen, die versuchten, das Märchen vom unschuldig überfallenen Deutschland zu entlarven, nicht gehört oder gar diffamiert. Die Wahrheit über den Kriegsausbruch 1914 wurde nur in relativ engen pazifistischen, sozialistischen und linksintellektuellen Nischen gesehen.

So studierte der Schriftsteller Emil Ludwig (1881–1948) die Akten zur Vorkriegsgeschichte und verfasste ein anklagendes Werk mit dem Titel Juli 1914. Den Söhnen zur Warnung. Es erschien allerdings erst 1929. Außerdem konnte Ludwig seinen klassenkämpferischen Standpunkt nicht wirklich ablegen und kam zu dem Schluss: „Die Gesamtschuld lag in den Kabinetten, die Gesamtunschuld auf den Straßen Europas.“ Und Heinrich Mann wurde zwar mit der Karikatur des Untertan berühmt, in dem sich niemand wieder erkennen musste, nicht aber mit seiner ernsten Analyse der Vorkriegszustände Kaiserreich und Republik.

 

Dabei nahm die Debatte um die deutsche Kriegsschuld in der Weimarer Republik großen Raum ein. Es wurden auch einzelne deutsche Fehler diskutiert. Aber fast alles war von vorneherein als „Unschuldsforschung“ angelegt. So bekam etwa Kanzler Bethmann Hollweg von den Weimarer Historikern heftige Prügel ab. Aber gleichzeitig führten sie seine Fehler als „Beweis“ an, dass eine so schwächliche Regierung keinen Krieg gewollt haben kann. Wissenschaftlich Haltbares wurde praktisch nicht produziert.

 

Das ist heute anders, trotzdem bietet die Schuldfrage noch immer Anlass zu Kontroversen. Immer wieder werden andere Akteure ins Rampenlicht gerückt. Das beginnt bei der deutschen Regierung. Trifft den Kanzler die Hauptschuld? Oder doch eher das Auswärtige Amt? Oder sabotierte Tschirschky dessen Politik? War der Kaiser Opfer seiner Regierung, die seine Friedensbemühungen torpedierte? Oder nicht vielmehr der Kern des Problems? Auch das Verhältnis zwischen Österreich-Ungarn und dem Deutschen Kaiserreich wird kritisch beleuchtet. Riss die Donaumonarchie Deutschland mit ins Verderben oder umgekehrt? Und wie hoch muss man den Anteil der anderen beteiligten Mächte bewerten? Interessanterweise wird in jüngster Zeit gerade im Ausland die These von der deutsch-österreichischen Hauptverantwortung relativiert. Werke wie Die Schlafwandler von Christopher Clark oder July 1914: Countdown to War von Sean McMeekin zeigen ein erstaunliches Verständnis für die Haltung der deutschen Verantwortlichen, gehen dafür aber hart mit den Entente-Staaten ins Gericht. Russland werden seine frühen Rüstungen vorgeworfen, die als klarer Wille zum Krieg angesehen werden. Frankreich wird angekreidet, das Zarenreich bei diesem Kurs bedingungslos unterstützt zu haben. Und England bescheinigt man, recht unbrauchbare Lösungsvorschläge präsentiert und dabei die von den russischen Rüstungen ausgehende Gefahr übersehen zu haben.

 

Nun gibt es nur wenige hieb- und stichfeste Zeugnisse, was die Beteiligten damals wirklich dachten. Wie ehrlich Verhandlungsangebote und Friedensbeteuerungen waren, kann man nur anhand von Indizien vermuten und dabei sind teilweise durchaus Mutmaßungen in verschiedene Richtungen möglich. Angesichts dessen erscheint es sinnvoller, nicht zu fragen „Wer war schuld?“, sondern „Was waren die Ursachen des Krieges?“ Denn die Dinge, die damals verhängnisvoll wirkten, sind in ihrem Kern überwiegend zeitlos und sorgen – in modifizierter Form – immer wieder für neue Krisen.

^