Juli 1914
Rezensionen

die horen (Hrsg.): August 1914

Wallstein-Verlag 2014, 400 S., 16,50 Euro

Europa im Sommer 1914 als literarisches Experiment zwischen launiger Dichtung und hochpolitischem Essay


In der Schweiz gab es heftige Unwetter.  Das ist insoweit bemerkenswert, als es sich kaum eine Schrift über den Ausbruch des Ersten Weltkriegs verkneifen kann, auf das außergewöhnlich schöne Wetter hinzuweisen, dass im Sommer 1914 Europa beherrschte; so wie schon Stefan Zweig in seinen Erinnerungen von dem unvergesslichen, seidenblauen Himmel und der weichen Luft schwärmte. Die Schweiz also bildete in dieser Hinsicht eine Ausnahme. In anderer nicht.  Auch in Basel und Zürich verdrängte während der letzten Juliwoche 1914 mehr und mehr die Ahnung kommenden Unheils alle Gedanken an Urlaub und Sommerschlussverkauf, an private Probleme und öffentlichen Skandale, und wurde, als rundum der Krieg ausbrach und die eigene Neutralität bedroht schien, von patriotischen Aufwallungen und angsterfüllten Hamsterkäufen abgelöst, die sich kaum von denen in den kämpfenden Ländern wie Deutschland oder Frankreich unterschieden.

23 Autoren und Autorinnen aus ganz Europa hat das Netzwerk der Literaturhäuser gewonnen, um mit Hilfe der lokalen Presse von damals den Kriegsausbruch in ihren Heimatstädten zu beleuchten. Die Essays und Erzählungen sind kürzlich unter dem Titel "August 1914" als Band der Literaturzeitschrift „die horen“ im Wallstein-Verlag herausgekommen und werden derzeit in den beteiligten Städten vorgestellt.

 "Mit dieser Welt muss aufgeräumt werden", fordert Kleist-Preisträger Marcel Beyer, aber im Grunde tun er und die anderen genau das Gegenteil und graben nach den Relikten einer Welt, mit der die Geschichte aufgeräumt hat. Beyer fragt nach dem Befinden deutscher Kriegsgefangener in französischen Lagern, führt stolze Väter vor, die der Taufe ihrer Söhne mit totenkopfgeschmückten Mützen auf dem Kopf beiwohnen, und schildert komplizierte französische Haartrachten genauso unterhaltsam wie die hysterische Jagd auf die so genannten „Goldautomobile“ in den ersten Kriegstagen. Er tut all dies sprachlich brillant und aus spannenden Blickwinkeln heraus. Doch als er sich dann gar nicht mehr von General Ludendorffs Karpfengesicht zu lösen vermag, beginnt die Begeisterung des Lesers dem Befremden zu weichen. Einem Befremden, wie sehr der Autor im Befremden über 1914 stecken bleibt. Denn das deutsche Kaiserreich komisch zu finden, ist nun wahrhaft keine Kunst und jeder aufklärerische Impetus über Militarismus, Chauvinismus, soziale Verwerfungen und mentale Verblendungen dieser Zeit im Grunde nur eine Fußnote zu Heinrich Manns „Untertan“. Mal abgesehen davon, dass Erich Ludendorff weit Schlimmeres verbrochen hat, als hässlich gewesen zu sein.  Was aber sind geschichtliche Rückblicke wert, die keine Brücke zum Damals schlagen, sondern die Kluft genüsslich vertiefen und so eine beruhigende Gewissheit vorgaukeln, dass die Fehler von damals heute nicht mehr möglich sind?

Man könne Dummheit und Verblendung nicht mit dem fehlenden historischen Abstand der damals Lebenden entschuldigen, waren sich zwar Beyer und die Moderatorin Sigrid Löffler bei der Eröffnungsveranstaltung der Lesereihe am 12. Mai in Berlin einig, und Löffler verwies noch auf den hellsichtigen Karl Kraus und sein Monumentalopus "Die letzten Tage der Menschheit". Aber selbst, wenn man die Tatsache beiseite lässt, dass Kraus dieses Werk erst 1915 begann und unzählige Male überarbeitete, bevor es zum Fanal gegen einen mittlerweile zu Ende gegangenen Krieg wurde, reicht ein einzelner Mahner eben nicht, um einen Kontinent zu retten. Zumal die meisten anderen Geistesgrößen von Gerhart Hauptmann über Rainer Maria Rilke, Frank Wedekind und Hugo von Hofmannsthal bis hin zu Thomas Mann den Krieg zunächst begrüßten. Später änderten sie zwar ihre Meinung. Später jedoch, bringt es Zsófia Bán auf den Punkt, war es zu spät.

Die ungarische Autorin wirft ähnlich kunstfertig wie Beyer Schlaglichter auf die 100 Jahre alte Vergangenheit, doch ihre Zielrichtung ist genau umgekehrt. Nicht den Merkwürdigkeiten von damals gilt ihr Blick, sondern die Ereignisse von 1914 dienen quasi als Brennglas um, die Verwerfungen der Gegenwart schonungslos auszuleuchten und vorzuführen, welches Unheil alte Mythen immer noch anzurichten vermögen, wenn ihr fauler Zauber nie entlarvt worden ist. Sie findet in den Trümmern der zerstörten Welt keine Kuriositäten, sondern Altlasten, die ihr Gift erst heute freisetzen. Deren Name lautet in Ungarn  "Trianon" und die Ähnlichkeiten zu dem deutschen Trauma "Versailles", das die Nationalsozialisten instrumentalisierten, um die Weimarer Republik zu zerstören, sind wahrhaft beängstigend.

Vielleicht unterscheidet die 23 Texte vor allem, wie politisch sie sind. So verweigerte sich der bosnische Autor Dževad Karahasan dem Attentat, das in seiner Heimatstadt Sarajewo stattgefunden hat, tat dieses bei der Auftaktveranstaltung sogar als "Theater" ab und rückt stattdessen einen verliebten Briefträger als den ersten Gefallenen aus Sarajewo in den Mittelpunkt seiner Erzählung. Auch in der venezianischen Romanze zwischen einem italienischen Offizier und einer geheimnisvollen, österreichischen Adeligen von Andrea Molisini spielt die damalige Politik seines Heimatlandes, das 1915 ohne die geringste Not in den Krieg eintrat, keine Rolle. Am radikalsten entzieht sich jedoch der Stuttgarter Lyriker Ulf Stolterfoht, der den Ereignissen vom Sommer 1914 kaum mehr als einen Nebensatz widmet und stattdessen neun fiktive Dichter Verse im Stil von Laser-Schüler, Benn, Becher, Trakl und Werfel schmieden lässt.

Auch die anderen deutschen Autoren setzen mehr auf Stimmung, denn auf Analyse. Mit Ausnahme von Steffen Kopetzky, der die Ereignisse atmosphärisch dicht aus der Sicht eines Berliner Jungen schildert, wählen sie - ebenso wie der Franzose Éric Chevillard und die serbo-ungarische Wahlschweizerin Melinda Nadj Abonji - die Technik der Collage. Erkennbar unter dem Feuerwerk der Eindrücke, das die Lektüre der Zeitungen aus dem Sommer 1914 bei ihnen hinterlassen hat, richten Lukas Hammerstein für München, Angela Krauß für Leipzig, Uwe Saeger für Rostock und Katrin Seddig für Hamburg ein farbenfrohes Potpourri an, in dem sich Weltbewegendes mit Banalitäten mischt, patriotische Vaterlandsbeschwörung neben der Werbung für Vasenol-Sanitäts-Puder steht, Kriegsangst zwischen Militärkonzerten, Kino, Theater und Sommerfrische. In einem Moment erscheint der Sommer 1914 unglaublich fern und kaum fassbar in seiner Fremdheit, dann wieder kommt er durch dieses oder jedes Detail der Gegenwart ganz nah.

Als jemand, der den Gang in die Zeitungsarchive von damals auch gegangen ist, kann ich die Faszination der Kollegen nachvollziehen. Auch ich musste mich wieder und wieder von Kleinanzeigen und Fortsetzungsromanen, von Feuilleton und Sportergebnissen losreißen und mich daran erinnern, dass es mein eigentliches Bestreben war, heraus zu finden, was die Menschen in Deutschland im Juli 1914 eigentlich von den politischen Verwicklungen, die zum Krieg führten, mitbekamen. Mit diesem Hintergrund jedoch wundert mich, dass in keinem der Texte in „August 1914“ thematisiert wird, dass der deutschen Bevölkerung Friedensverhandlungen ihrer Regierung vorgegaukelt wurden, die es in Wahrheit nicht gegeben hat. Wie bereits damals scheint auch heute niemandem aufzufallen, dass die Bekanntmachung der Regierung vom 2. August, es sei noch keine Kriegserklärung erfolgt, genauso eine glatte Lüge ist, wie die Behauptung vom 3. August, der russische "Überfall" sei vor dem Abbruch der Beziehungen erfolgt, während es in Wahrheit erst nach der deutschen Kriegserklärung kleinere Grenzverletzungen in Ostpreußen gab. Selbst die amtlich bestätigten „Tatarenmeldungen“ vom 3. August über angebliche französische Bombenabwürfe über Nürnberg oder französische Ärzte, die Brunnen mit Cholera-Bakterien vergiftet haben sollen, finden nirgendwo Erwähnung. Dabei waren es diese Lügen über einen nicht stattgefunden habenden Angriff der Feinde, die noch vor Ausbruch des Ersten Weltkrieges die Saat für den Zweiten legten.

Dem gegenüber macht die in Wien lebende Russin Julya Rabinowich das politische Desinteresse der Bildungselite am Beispiel der eigentlich hochintelligenten Alma Mahler-Werfel zum Thema ihres Beitrages und auch die beiden anderen österreichischen Autoren, Bettina Balàka für Graz und Karl-Markus Gauss für Salzburg, führen ebenso kenntnisreich wie gekonnt Sollbruchstellen des Habsburger Staatsgebildes vor.  Für Belgien zeichnet der Kunsthistoriker und Journalist Erwin Mortier mit leichter Hand und profundem Wissen ein nicht nur anschauliches, sondern auch rundes Bild von Brüssel und Ostende im Sommer 1914. Für Glasgow tut dies die mehrfach preisgekrönte Autorin A. L. Kennedy. Beide scheuen nicht vor den dunklen Flecken in der Geschichte ihrer Heimatländer zurück, wählen bei ihrer Betrachtung aber eben nicht die größtmögliche Distanz, sondern im Gegenteil das „nationale Wir“, um dem Gemütszustand der Landsleute von damals näher zu kommen. Doch auch die fiktiven Texte sind nicht dazu verdammt, unpolitisch zu sein. Für Rumänien bietet der Journalist Filip Florian einen Ich-Erzähler auf, der nach den Balkankriegen auf sein persönliches Glück hofft und deshalb mit größter Aufmerksamkeit alle Anzeichen beobachtet, die auf Krieg hindeuten und so seine Heirat mit der geliebten Fulvia verhindern könnten. Für Russland steuert die ukrainische Schriftstellerin Marjana Gaponenko  einen erdachten Briefwechsel zwischen dem Komponisten Alexander Skrjabin, der in seiner naiven Kriegsverherrlichung an Thomas Manns "Betrachtungen eines Unpolitischen“ erinnert, und einer klarsichtigeren, ehemaligen Geliebten bei. Die Stimmung in Basel schildert Melitta Breznik aus der Perspektive eines besorgten Arztes. Der serbische Konzeptkünstler Sreten schließlich lässt die Redakteure der Belgrader Zeitung "Politika" über die moralische Berechtigung des Attentats von Sarajewo diskutieren.  Dagegen verzichtet die türkische Politwissenschaftlerin Ayfer Tunç , obwohl Autorin preisgekrönter Kurzgeschichten und Romane, auf alle literarischen Eitelkeiten, um eindringlich zu schildern, welche Auswirkung die wenig bekannte, damalige Stimmung im Osmanischen Reich für die weitere türkische Geschichte hatte; wenig bekannt nicht nur im Westen, sondern auch in ihrer Heimat, wo die Schrift- und Sprachreform von 1923 die Bewohner fast vollständig von allen älteren geschichtlichen Schriftzeugnissen abgeschnitten und der unsicheren mündlichen Überlieferung überlassen hat.

Zum angesichts der gängigen Vorstellungen vom Ersten Weltkrieg wohl exotischsten Schauplatz jedoch führt Stefan Moster. Der Deutsche begibt sich als Flaneur auf einen gedanklichen Streifzug durch die Vergangenheit seiner Wahlheimat Helsinki und zeigt dabei eines von zahlreichen europäischen Ländern, für das der Erste Weltkrieg nicht nur Tod und Verderben, sondern auch die nationale Souveränität mit sich brachte.  So fügen sich bei der Lektüre die Schlaglichter auf die einzelnen Städte zu einem Bild, das sowohl die Unterschiedlichkeit wie die Verwobenheit Europas im August 1914 erahnen lässt und die fast 400 Seiten dicke Anthologie weit mehr sein lässt als die Summe ihrer Beiträge.

 

 Die Rezension darf gerne auszugsweise oder gesamt von Dritten veröffentlicht werden, solange dazu folgender Autorenvermerk mit abgedruckt/gesendet wird:

 Christa Pöppelmann ist Journalistin und Autorin. Ihr neuestes Buch „Juli 1914 – Ein Lesebuch“ erzählt ebenfalls anhand von historischen Zeitungen, aber auch politischen Quellen vom Kriegsausbruch in Deutschland. Die einzelnen Kapitel werden ab dem 28. Juni 2014 tageweise auf der Website www.juli1914.de veröffentlicht werden.

 

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